Bewusst leben,
einfach leben: Das wollen viele jetzt in der Fastenzeit. Ich selber möchte
meinen Glauben erneuern. Das hat auch etwas mit bewusstem Leben zu tun, aber
für mich noch mehr mit einer bewussten Beziehung zu den Quellen meines
Glaubens. Deshalb möchte ich in dieser
Woche über biblische Geschichten sprechen, die mir wichtig sind. Ich habe
Geschichten ausgewählt, in denen Jesus Wunder tut. Vielen sind diese
Geschichten wunderlich – weil nur wenige mit so etwas in der heutigen Zeit
rechnen. Daher: Wenn diese Texte heute etwas bewirken, dann ist das vielleicht
auch ein Wunder. Die erste Geschichte steht im Lukasevangelium, Kapitel 11:
„Auf dem Weg
nach Jerusalem zog Jesus durch das Grenzgebiet von Samarien und Galiläa. Als er
in ein Dorf hineingehen wollte, kamen ihm zehn Aussätzige entgegen. Sie blieben
in der Ferne stehen und riefen: Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns! Als er
sie sah, sagte er zu ihnen: Geht, zeigt euch den Priestern! Und während sie zu
den Priestern gingen, wurden sie rein. Einer von ihnen aber kehrte um, als er
sah, dass er geheilt war; und er lobte Gott mit lauter Stimme. Er warf sich vor
den Füßen Jesu zu Boden und dankte ihm. Dieser Mann war aus Samarien. Da sagte
Jesus: Es sind doch alle zehn rein geworden. Wo sind die übrigen neun? Ist denn
keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, außer diesem Fremden? Und er sagte zu ihm:
Steh auf und geh! Dein Glaube hat dir geholfen.“
Man kann diese
Geschichte auf verschiedene Weise auslegen: moralisch, theologisch,
seelsorglich und mystisch. Die moralische Auslegung ist einfach, aber sie
gefällt mir nicht so gut: Jesus heilt zehn Aussätzige; neun sind undankbar, nur
einer ist dankbar. Also sind die neun böse und der eine ist gut. So einfach ist
das. Dann wäre dieser Text ein Appell, immer schön dankbar zu sein. Wie oft
habe ich das als Kind gehört: Und was sagt man da? ... Mir ist das zu platt.
Besser gefällt
mir eine theologische Auslegung: Jesus hält sich an das jüdische Gesetz, also
an das Alte Testament. Darin steht, dass ein vom Aussatz Geheilter zu einem
Priester gehen muss. Erst, wenn dieser ihn für geheilt erklärt, darf er wieder
am öffentlichen Leben teilnehmen. Was aber passiert in der Geschichte? Die Neun
gehen zu den Priestern und holen das religiöse Heilungsattest. Als sie damit
haben, was sie wollen, ist ihnen Jesus offenbar egal. Sie erfüllen religiöse
Vorschriften, kommen aber nicht zum Glauben. Anders der Eine: Als er merkt,
dass er geheilt ist, kehrt er um. Das Gesetz ist ihm nicht mehr wichtig. Er
geht zu Jesus, dankt ihm – und kommt zum Glauben. Neun sind gesund geworden,
einer ist geheilt.
Die
seelsorgliche Auslegung ist sehr realistisch. Beinahe so, als wäre die
Geschichte von den zehn Aussätzigen für heute geschrieben worden. Der pastorale
Erfolg Jesu beläuft sich nämlich auf zehn Prozent. Zehn werden gesund, einer
kommt zum Glauben. Das ist wie heute in der Kirche: hundert Prozent Einsatz,
zehn Prozent Erfolg. Tatsächlich kommen von denjenigen, die ich getauft und
getraut habe, noch etwa zehn Prozent überhaupt jemals wieder. Ähnlich ist es
mit den Erstkommunionkindern und Firmlingen. Nachdem sie bekommen haben, was
sie wollen – nämlich die schöne Feier – sind sie einfach weg. Aber: In der
biblischen Geschichte werden die Neun ja nicht wieder krank. Sie bleiben
gesund, ihr Leben hat sich geändert. Das tröstet mich: Auch diejenigen, die ich
nach einem religiösen Event nicht mehr wiedersehe, haben vielleicht eine gute
Erfahrung gemacht. Eine Erfahrung, die ihr Leben prägt, ohne dass ich das
merke. Gott ist bei ihnen.
Die mystische
Auslegung ist ganz einfach: Ich darf Jesus den Aussatz meiner Seele hinhalten.
Es gibt vieles in meinem Leben, das schiefgelaufen ist. Oder jedenfalls nicht
so war, wie ich mir das gewünscht habe. Das alles kann ich ihm hinhalten, mit
ganz viel Vertrauen. Er kann es heilen, ob ich das nun merke oder nicht. Er
verlangt nicht einmal meinen Glauben. Sondern nur, dass ich mich von ihm
beschenken lasse. Dieses Vertrauen wünscht Ihnen Pfarrer Stefan Jürgens aus Münster. (WDR 3+5 am 19.2.2018)